Eine Veranstaltung des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst
Gesundheit und Prävention am Ende dieses Jahrzehnts
Am Gesundheitsstandort Baden-Württemberg treffen Erfindergeist, Wirtschaftskraft, eine sehr gute Gesundheitsversorgung und exzellente Wissenschaft zusammen. Doch um den Menschen im Land gute Präventionsmöglichkeiten und gleichwertige Zugänge zu gesundheitsrelevanten Themen zu bieten, braucht es innovative Antworten. Wie diese aussehen können und wo Baden-Württemberg in puncto Prävention und Gesundheit 2030 stehen wird, haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen in einer Online-Veranstaltung des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst am 18. Januar 2022 diskutiert.
Wie wird es in fünf oder zehn Jahren um das Thema Gesundheit und Prävention bestellt sein, wenn es gelingt aus der gemeinsamen Expertise in Wissenschaft, Wirtschaft und Versorgung neue Lösungen zu entwickeln? Über diese Frage sprachen Fachleute aus unterschiedlichen Disziplinen bei der Veranstaltung „Gesundheit und Prävention am Ende dieses Jahrzehnts: Wo werden wir stehen? Was kann die Wissenschaft beitragen?“, die am 18. Januar vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst unter dem Dach des Forums Gesundheitsstandort Baden-Württemberg veranstaltet wurde.
Ministerialdirigent Clemens Benz, Abteilungsleiter im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst, begrüßte die Teilnehmenden. Er betonte, dass die Prävention ein zentrales Thema für die Landesregierung darstelle, zu dem man sich auch im Rahmen der Koalitionsvereinbarung bekannt habe. Gesundheit sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Dabei gehe Prävention über die engere Sicht der medizinischen Früherkennung von Krankheiten hinaus – vielmehr bedeute sie die Sicherstellung gleichwertiger Gesundheitschancen.
Gesundheit als Aufgabe der Gesellschaft
Prof. Dr. Joachim Fischer, Direktor am Zentrum für Präventivmedizin und Digitale Gesundheit der Medizinischen Fakultät Mannheim an der Universität Heidelberg, nannte in seinem Vortrag „Gesundheit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ zunächst die fünf strategischen Handlungsempfehlungen an das Wissenschaftsministerium:
- Ressourcen für die Gesundheit in Gemeinden und Quartieren strukturiert vernetzen
- Evidenzbasierte, gesundheitsbezogene Wertschöpfungsketten über Grenzen von Wirtschaftssektoren hinweg fördern
- Die Megatrends der Digitalisierung und Konsumentenorientierung für Prävention aufgreifen
- Hausarztmedizin neu auf Gesundheitsstärkung ausrichten
- Strukturierte und kontinuierliche Beratung als Service der Wissenschaft an die Politik und Entscheider im Land als etablierter Prozess
Die Ausgangslage in Baden-Württemberg sei gut, betonte Prof. Fischer in seinem Vortrag. Dies sei auch dem Forum Gesundheitsstandort und dem aufgesetzten Koalitionsvertrag zu verdanken, der im Besonderen darauf abhebt, die primäre Gesundheitsversorgung im urbanen und ruralen Raum zu sichern. Allerdings herrsche eine soziale Ungleichheit der Gesundheitschancen in der Bevölkerung und eine große „Präventionslücke“. Gesundheitsförderung und Gesundheitsbegleitung seien im ärztlichen Vergütungssystem nicht vorgesehen.
Der Fachkräftemangel sei ebenfalls ein Problem – nicht nur auf dem Land. Auch sei die Digitalisierung in vielen Curricula noch nicht angekommen. Daher gebe es in Deutschland einen Rückstand bei der Nutzung digitaler Möglichkeiten. Zudem müssten die Bürger verstärkt in den gesundheitlichen Diskurs miteinbezogen werden.
Gemeindezentrum für Bürgergesundheit
Joachim Förster, Bürgermeister von Nußloch, und Dr. Matthias Zimmermann von der Gesellschaft für Sportmanagement und Beratung (GSM) sprachen darüber, wie man Ressourcen für die Gesundheit in Quartieren und Gemeinden strukturiert vernetzen kann. Aufgrund der sinkenden Versorgungsperspektive in Nußloch müsse die Gesundheit der Zukunft neu gedacht werden, so Förster. Daher habe sich Nußloch erfolgreich für das Vernetzungsprojekt des Landes "Gemeindebasiertes Case-Management mit Primärversorgungsnetz mit sektorenübergreifender multiprofessioneller Prävention und Frühintervention zum Erhalt von Teilhabe und Lebensqualität" (GECAM) beworben und ein Zentrum geplant, das Bürgergesundheit, Begegnung, Versorgung und Ausbildung vereint. Das Projekt befindet sich bereits in der Endphase; darin wurden gute Vernetzungs- und Synergiepotenziale sowie spezielle Bedarfe für Nußloch identifiziert. Auch eine Gesundheitsmanagerin wurde eingestellt. Das Zentrum soll ein Leuchtturmprojekt mit Strahlkraft werden.
Die ersten Lebensjahre sind entscheidend
Um die Jüngsten unserer Gesellschaft ging es im Vortrag "Prävention: auf die frühe Kindheit kommt es an!" von Prof. Dr. Sabina Pauen von der Abteilung Gesundheitspsychologie an der Universität Heidelberg. Gerade bei Kindern spiele Prävention eine wichtige Rolle, so Pauen. Denn in der frühen Kindheit entwickeln sich nicht nur zahlreiche neue Synapsen im Gehirn. Auch für Grob- und Feinmotorik, Sprache, Sozialverhalten oder auch Selbstregulation sind die ersten Lebensjahre entscheidend. Wichtige Voraussetzungen für eine gute Entwicklung seien die Ernährung, der Schlafrhythmus, Sicherheit und Struktur im Alltag, eine altersangemessene Stimulierung sowie eine liebevolle Fürsorge.
Zur Beobachtung und Dokumentation frühkindlicher Entwicklung wurde das Programm MONDEY in Form eines Ratgebers für Eltern, als Fortbildungskonzept für Fachkräfte sowie als kostenfreie Informationswebsite (www.mondey.de) entwickelt. Das Programm umfasst acht Bereiche und insgesamt 111 Meilensteine in den ersten drei Lebensjahren. Aktuell in Planung ist eine Erweiterung auf die Lebensjahre 4 bis 6 sowie eine App. MONDEY, so Pauen, könnte einen wesentlichen Beitrag zur Prävention im frühkindlichen Bereich leisten.
Die Hausarztmedizin der Zukunft
Wie die Gesundheitsförderung von morgen aussehen könnte, erläuterte Prof. Dr. Joachim Fischer in seiner Rede mit dem Titel "Die Hausarztmedizin der Zukunft". Wichtig sei, die Megatrends der Digitalisierung und das steigende Bewusstsein der Menschen für Prävention aufzugreifen. "LIVING in HEALTH" stehe für die Gesundheitspraxis der Zukunft, ein Konzept, das auch im ländlichen Raum, wo Kinderärzte fehlen, funktionieren könnte. Elemente einer innovativen Versorgung seien neben einem multidisziplinären Team auch dessen werteorientierte Weiterentwicklung, exzellente Dienstleistungen, auf „Nutzererleben“ ausgerichtete medizinische Versorgungszentren, die einen attraktiven Arbeitsplatz bieten, innovative digitale Lösungen sowie das Messen von Outcomes, Effekten und Kosten bei allen Kunden bzw. Patienten. Aktuell wird eine Experimentalpraxis etabliert, in der das Zusammenspiel aller Komponenten simuliert wird.
Gesundheitsbezogene Wertschöpfungsketten
Dr. André Baumgart, Vize-Präsident der Gesellschaft für Value-Based Health Care in der Schweiz, befasste sich in seinem Vortrag mit dem Thema "Gesundheitsbezogene Wertschöpfungsketten über Grenzen von Wirtschaftssektoren – Nutzung von künstlicher Intelligenz". Unter einem „wertbasierten Gesundheitssystem“ verstehe man das Verhältnis der Gesundheitsergebnisse, die die Menschen erlangen und der Kosten, die aufgewendet werden, so Baumgart. Wichtig sei hierbei, nutzenorientiert zu handeln. Die Wertschöpfung müsse über den gesamten Behandlungszyklus hinweg geschaffen werden – unter Einbezug aller erforderlichen Dienstleistungen. Häufig würden die Ergebnisse einer medizinischen Behandlung in der stationären Versorgung noch analog gemessen. Künstliche Intelligenz könne hier viele Vorteile bieten und sie könne helfen, die Gesundheitsversorgung zielgerichtet umzustrukturieren und somit voranzutreiben.
Die „letzte Meile“
Prof. Dr. Till Bärnighausen, Humboldt Professor und Direktor des Instituts für Global Health an der Universität Heidelberg, beschäftigt sich mit der Forschung der „letzten Meile“, also der Bewusstmachung von Präventions- und anderen Interventionen in der Bevölkerung. In seinem Vortrag „Die letzte Meile von der Erkenntnis zur praktischen Umsetzung“ berichtete er von der BFAS-Studie in Baden-Württemberg, bei der untersucht wurde, welche Corona-Testmethoden am kosteneffektivsten sind. Die Teilnahmerate an Studien in Baden-Württemberg lag zwischen 30 und 40 Prozent, in einigen Regionen bei weniger als 20 Prozent. Dies zeige, dass eine große öffentliche Aufgabe nicht gut erfüllt worden sei. Die Wissenschaft könne eine evidenzbasierte Politik jedoch unterstützen.
Über großangelegte bevölkerungsrepräsentative Studien könnten der Bedarf an Gesundheitsleistungen erfasst und in Verbindung mit AI/maschinellem Lernen eine Typisierung bezüglich des Risikoverhaltens vorgenommen werden. In groß angelegten randomisierten Experimenten könnten schließlich die Wirkung nachgewiesen und Prozesse etabliert werden. So ließe sich der finanzielle und soziale Nettowert einer Gesundheitsleistung darstellen, so Bärnighausen. Ein Beispiel dafür sei die Auswertung von weltweiten Umfragedaten zu Bluthochdruck und dessen Behandlung, die zeigen könnten, wo neue oder intensivere Präventionsinterventionen am sinnvollsten wären.
Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik
Prof. Dr. Falko Sniehotta, Professor für Public Health, Prävention und Sozialmedizin an der Universitätsklinik Mannheim, ging in seinem Vortrag auf die Frage ein, wie sich „Strukturierte und kontinuierliche Beratung als Service und Bringschuld der Wissenschaft an die Politik und Menschen im Land verankern“ lassen und was wir von England lernen können
Die Gesundheit der Bevölkerung korreliere neben biologischen und medizinischen Aspekten auch stark mit sozialen Faktoren wie etwa Einkommen, Arbeit, soziales Umfeld oder Luftverschmutzung. All diese Aspekte lägen im Einflussbereich der Politik, entsprechend würden viele Politikfelder nun gesundheitsrelevant. Daher müsse die Politik effizient und evidenzbasiert arbeiten. Ein gutes Beispiel sei die Policy Research Unit im Vereinten Königreich, bei der 25 Personen für fünf Jahre zielorientiert an einem mit der Regierung abgestimmtem Thema forschen. Die Forschung ist dabei unabhängig, robust und transparent. Das Finanzierungsmodell ermöglicht Flexibilität innerhalb der Forschung und einen sogenannten „Rapid Response Service“, der sich um eilige Anfragen aus dem Ministerium kümmert. Dabei geht es vor allem um die Themen Patient Care, Primäre Prävention (Nutzung des Gesundheitssystem durch die Bevölkerung) und die Implementierung von Evidenz in Gesundheitssysteme. Ziel ist eine effiziente Weitergabe der Ergebnisse an politische Verantwortungsträger; hierfür wurde eine Leitlinie erarbeitet (policy briefs). Auch hierzulande, so Sniehotta, gelte es zu überlegen, welche Art von Infrastruktur sinnvoll ist, um den Wissensaustausch zwischen Forschung, Wirtschaft und Politik zu optimieren.