Regionen für ärztliche Ausbildung
„Ein großes Pro für die Niederlassung auf dem Land ist die Medizin nah am Patienten“
Nach der Ausbildung aufs Land? Das können sich immer weniger junge Ärztinnen und Ärzte vorstellen. Nicht nur in Baden-Württemberg stagniert die Entwicklung in der landärztlichen Versorgung seit Jahren. Im Rahmen des Projekts „Regionen für ärztliche Ausbildung“ setzt das Institut für Allgemeinmedizin des Uniklinikums Tübingen zusammen mit der Medizinischen Fakultät Tübingen diesem Trend ein innovatives Maßnahmenpaket entgegen. Wie der Nachwuchs gezielt für die landärztliche Tätigkeit motiviert werden soll, erläutert Projektkoordinator Dr. Thorsten Doneith im Interview.
Was macht die Medizinstudierenden so skeptisch gegenüber einer Niederlassung auf dem Land?
Dr. Doneith: Da gibt es sicher vielfältige Gründe, warum viele junge Ärztinnen und Ärzte lieber in der Stadt arbeiten möchten. Ein Grund mag sein, dass manche lieber in einem großen Team arbeiten möchten. Anderen sind flexible Arbeitszeiten wichtig, möchten vielleicht nur in Teilzeit arbeiten. Ein anderer Grund ergibt sich aus der demografischen Entwicklung. Wir haben eine immer älter werdende Gesellschaft, dadurch nimmt die Zahl der Patientinnen und Patienten in den Praxen zu. Die Belastung für die derzeit in unterversorgten ländlichen oder kleinstädtischen Regionen tätigen Allgemeinmediziner steigt also immer weiter an.
Können Sie die Herausforderungen für künftige Landärzte und -ärztinnen näher beschreiben?
Dr. Doneith: Auf dem Land hat man eine ganz andere Infrastruktur als in den Ballungszentren, man hat weite Wege, große Flächen und die Struktur im Gesundheitswesen ist ganz anders. Man hat nicht die breite Palette an Niedergelassenen, an Klinikinfrastruktur, wie es sie im großstädtischen Bereich gibt. Gerade im hausärztlichen und auch frauenärztlichen Bereich wird vieles vor Ort gelöst. Die Kinderheilkunde ist auch oft mit dabei. Man ist in vielen Fällen mehr auf sich selbst gestellt, muss und darf auch ein breiteres Spektrum abdecken.
Da geht es sicher oft auch familiärer zu, was wiederum ein Anreiz sein kann …
Dr. Doneith: Das ist richtig, Sie haben auf dem Land ganz andere dörfliche Netzwerke, in die Sie eingebunden sind. Ein großes Pro für die landärztliche Tätigkeit ist die tatsächlich nah am Patienten gelebte Medizin. Man kennt die Anamnese einer ganzen Familie und hat die Möglichkeit, die ganze Breite des Fachs auszuleben. Im städtischen Umfeld habe ich diese Möglichkeit oftmals nicht, da kommen auch ganz andere Patienten, die mit spezifischen Anliegen wie Hautkrebsscreening vielleicht lieber gleich zum Hautarzt wollen. Auf dem Land ist die Erwartung in dieser Hinsicht eine ganz andere. Wer das mag, ist dort gut aufgehoben.
Wie gelingt es Ihnen, mit Ihrem Projekt mehr Studierende für die landärztliche Tätigkeit zu gewinnen?
Dr. Doneith: Mit dem Projekt sprechen wir Studierende an, bei denen wir eine entsprechende Neigung erkennen, um ihr Interesse weiter auszubauen. Wir bestärken sie darin, diesen Weg weiter zu gehen und helfen dabei, Bedenken abzubauen. Wir zeigen ihnen, was das reizvolle an einer Medizin ist, die viel Praktisches hat und von der engen Interaktion mit den niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen vor Ort lebt. Und genau das wünschen sich die Studierenden auch, die sich dafür interessieren.
Welche Ausbildungsaspekte umfasst Ihr Projekt?
Dr. Doneith: Wir gestalten derzeit ein Neigungsprofil „Praxis statt Hörsaal – regional Medizin erleben“, in dem Medizinstudierende in verschiedenen Semestern inhaltlich aufeinander abgestimmte Ausbildungsmodule wählen können. In diesen praxisorientierten Modulen werden sie mit den Besonderheiten regionaler Gesundheitsversorgung vertraut gemacht. Wir fangen in der Vorklinik mit dem Modul „Das volle Leben“ an und bauen gleichzeitig einen digitalen Pfad auf, der während des gesamten Studiums zur Verfügung steht. Neben unterschiedlichen digitalen Lehrinhalten werden die Studierenden darin zugleich zu Angeboten unseres Kooperationspartners geführt, dem Landkreis Calw im Nordschwarzwald.
Wie läuft diese Kooperation mit dem Landkreis Calw ab?
Dr. Doneith: Von Anfang an war es uns wichtig, gemeinsam mit der Region passende Formate für eine regionale Lehre zu entwickeln. Dafür haben wir uns schon zu Beginn des Projektes mit den verschiedenen lokalen Akteuren aus dem Landratsamt, den verschiedenen Kliniken, aber auch mit den niedergelassenen Kollegen vor Ort sowie Studierenden aus der Region zusammengesetzt. Neben den Angeboten vor Ort wird es auch für alle Beteiligten die Möglichkeit geben, in unseren „Topf“ digitaler Lehrinhalte eigene Angebote einzufügen, die Studierende des Neigungsprofils nutzen können. Sowohl digital als auch vor Ort sollen die Studierenden die örtlichen Versorgungsstrukturen und Besonderheiten besser kennenlernen. Sie sollen unter anderem Einblicke in die Zusammenarbeit zwischen Ärztinnen und Ärzten verschiedener Fachdisziplinen und zwischen verschiedenen Gesundheitsfachberufen wie z.B. Physiotherapeuten in der Region erhalten. Auch das Zusammenspiel zwischen niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten und Kliniken wird vermittelt. Wir hatten im März einen „Tag der regionalen Lehre“, bei dem wir konkrete Unterrichtsformate ausgearbeitet haben, sodass im Oktober das Wahlpflichtfach „Das volle Leben – Begegnungen mit Patient*innen und Expert*innen vor Ort” als erstes Modul losgehen kann. Weitere Module wie Famulaturen und Blockpraktika bei lokalen Partnern vor Ort werden für unsere Studierenden folgen. Für die weitere Zukunft ist unser Ziel, dass die entwickelten Strukturen und Formate auf andere unterversorgte Regionen übertragen werden.
Förderung durch die Landesregierung
Unter dem Dach des Forums Gesundheitsstandort Baden-Württemberg finanziert das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst unter enger Einbindung des Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration sowie des Ministeriums für Ländlichen Raum und Verbraucherschutz das Projekt „Regionen für ärztliche Ausbildung“ seit April 2021 mit 1,5 Millionen Euro. Am Projekt beteiligt sind die Studiendekanate und allgemeinmedizinischen universitären Einrichtungen aller Medizinischen Fakultäten in Baden-Württemberg und ihre kooperierenden Pilot-Modellregionen.