Seltene Krankheiten: Weg zur Heilung kann ein Labyrinth sein
Lange Zeit wurden Seltene Erkrankungen vernachlässigt – zu wenige Betroffene und damit nicht lukrativ genug für Pharmaunternehmen. Erst seit etwa zwei Jahrzehnten wird die Therapie der oft schweren Krankheiten in einigen Staaten gezielt gefördert. So auch in Deutschland. Dass es trotzdem für Erkrankte nicht immer leicht ist, zu einer Diagnose – geschweige denn einer wirksamen Therapie – zu kommen, und welche Möglichkeiten es gibt, selbst aktiv zu werden, soll ein Erfahrungsbericht zeigen.
An Seltenen Erkrankungen (SE) leiden vergleichsweise wenige Menschen: In der EU gilt dies, wenn nicht mehr als eine Person von 2.000 erkrankt ist. Da aktuell allerdings schon mehr als 6.000 Seltene Erkrankungen bekannt sind, ist die Gesamtzahl der Betroffenen trotz der Seltenheit der einzelnen Erkrankungen hoch. Allein in Deutschland leiden etwa vier Millionen Menschen an einer Seltenen Erkrankung.1)2) Durch die sich schnell entwickelnden Methoden der Biotechnologie unterstützt durch die Informationstechnologie und den damit einhergehenden verbesserten Diagnosemöglichkeiten, ist jedoch in absehbarer Zeit noch mit der Identifizierung von viel mehr Betroffenen zu rechnen.
Seltene Erkrankungen kommen in allen medizinischen Fachgebieten vor. Sie verlaufen meist chronisch und schwer – häufig sogar lebensbedrohlich. Ein großer Teil ist genetisch bedingt – meist monogen –, das heißt, sie gehen auf eine Mutation in einem einzigen Gen zurück. Mittlerweile weiß man jedoch, dass auch epigenetische Faktoren eine Rolle spielen können: also bestimmte Umwelteinflüsse wie der Lebensstil, die ungünstig auf die Aktivität krankheitsrelevanter Gene wirken. Doch im Gegensatz zu DNA-Mutationen sind Veränderungen der epigenetischen Strukturen umkehrbar. Dies kann vor allem auch bei einer wirksamen Nachsorge eine große Rolle spielen und Rückfälle verhindern bzw. frühzeitig erkennen.
Immer mehr Diagnose- und Therapiemöglichkeiten für SE
Aufgrund der genetischen Komponenten gab es lange Zeit praktisch keine Therapiemöglichkeiten für Seltene Erkrankungen. Mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms und dem rasanten Fortschritt bei den Sequenziertechniken von Nukleinsäuren und Proteinen, stehen aber immer mehr individuelle Diagnose- und Therapiemöglichkeiten zur Verfügung – wenn auch noch lange nicht auf dem Niveau der häufig vorkommenden Erkrankungen. Besonders neueste Sequenziertechniken leisten dazu einen erheblichen Beitrag, aber auch aktuelle Erkenntnisse der Personalisierten Medizin in Bezug auf genetische Veranlagungen.
Während es 1996 noch kein einziges Medikament für Seltene Erkrankungen gab, sind in der EU derzeit 220 Wirkstoffe zugelassen, einige Substanzen auch zur Therapie mehrerer Seltener Erkrankungen. Rund 2.400 weitere Arzneimitteltherapien sind aktuell in der Entwicklung.3)
Vor der Therapie steht nicht selten eine Odyssee an Arztbesuchen
Forschung und Errungenschaften der letzten Jahre geben also Anlass zur Hoffnung für Menschen mit einer Seltenen Erkrankung. Dennoch haben sie oft viele Arztpraxen aufgesucht, bevor sie – manchmal erst nach Jahren – eine korrekte Diagnose erhalten und gezielt therapiert werden können. So auch Hans-Günter Meyer, Patientenvertreter, Teilnehmer an mehreren Forschungsprojekten und aktives Mitglied zahlreicher medizinischer Gremien und Vereine: „2005 saß ich vor dem Bildschirm und konnte plötzlich nur noch verschwommen sehen, verbunden mit einer Heißhungerattacke – die ersten Symptome meiner Seltenen Erkrankung Insulinom“, berichtet er. „Diese kurzfristigen Einschränkungen konnte ich regelmäßig mit einem Glas Fruchtsaft beheben, und daher maß ich den Symptomen zunächst wenig Bedeutung bei. Auch Schwitzen und Herzrasen beunruhigten mich noch nicht. Doch wenige Monate später kam es zu einem größeren Anfall mit Doppelbildern, Sprach- und Orientierungsstörung. Schokolade rettete mich vor der Bewusstlosigkeit, aber die Angst und Schlafstörungen kamen hinzu. Da wurde ich hellhörig und habe zum Thema Unterzuckerung recherchiert. Ich fand heraus, dass in der ersten Phase der Unterzuckerung die Einnahme von Traubenzucker unmittelbar hilft. Mehrmals ging ich zu meinem Hausarzt und bat um einen Blutzucker- und Zuckerbelastungstest. Aber alles war in Ordnung – angeblich.“
(Epi-)Genetische Veränderungen als Ursachen Seltener Krankheiten
Doch für den Betroffenen war nichts mehr in Ordnung, die Symptome kamen wieder. Als ihn dies beim Autofahren in eine gefährliche Situation brachte, wurde klar, dass nun die Zeit zum Handeln gekommen sei: „Nun war ich in der Eigenverantwortung. Mir half keiner, was auch für meine Familie eine große Belastung war. Meine Recherchen zu einer Unterzuckerung bei Nicht-Diabetikern erbrachten dann den ersten Hinweis auf ein Insulinom. Als ich einen Arzt darauf ansprach, winkte dieser ab: mit einer Inzidenz von vier Betroffenen von einer Million viel zu unwahrscheinlich.“
Ein Insulinom ist ein seltener, meist gutartiger neuroendokriner Tumor aus β-Zellen der Bauchspeicheldrüse, in dem vermehrt Insulin produziert wird.4) Diese Seltene Erkrankung äußerst sich durch wiederkehrende Unterzuckerung – dem Leitsymptom auch bei den Anfällen Meyers, der sich daraufhin auf den Weg zum Diabetologen machte. „Hier wurde ich zunächst ausgelacht“, erinnert er sich. „Zur Sicherheit wurden aber die Laborwerte des C-Peptids bestimmt. Dieses Peptid wird aus Proinsulin abgespalten und eignet sich zur Insulinom-Diagnostik. Das Ergebnis kam am nächsten Tag; die stark erhöhten Werte erforderten schnelles Handeln.“ Meyer wurde am Universitätsklinikum Tübingen einem 72-stündigen Fastentest unterzogen, der bereits nach drei Stunden abgebrochen werden musste, da der Patient ins Koma fiel.
Glucosezufuhr brachte ihn wieder zu Bewusstsein, umfangreiche Untersuchungen folgten. Eindeutiges Ergebnis dieses Mal: Insulinom. Unter anderem durch eine spezielle Untersuchung der Blutgefäße – eine Angiografie – hatte man Größe und Lage des Tumors bestimmen können. In einer sechsstündigen Operation wurde das Insulinom daraufhin entfernt. Das Gewebe spendete er zur Einrichtung einer Gewebe- und DNA-Bank für Tumore des Magen-Darm-Trakts. In molekulargenetischen Untersuchungen fand man darin Genveränderungen, die zur gestörten Regulation eines Enzyms im Proteinstoffwechsel führten und dadurch die vermehrte Ausschüttung von Insulin verursachten (in der Fachsprache als endogener Hyperinsulinismus bezeichnet). 5)
Nachsorge: Lebensstil hinterfragen
Auch wenn sich die Insulinproduktion der verbliebenen β-Zellen schnell wieder normalisierte, lag noch ein langer Weg bis zur Heilung vor dem Patientenvertreter: Rehabilitation, Entfernung der Gallenblase, endokrinologische Nachuntersuchungen und die Therapie mit Insulin, Antibiotika und anderen Arzneimitteln. „Wieder war meine Eigenverantwortung gefragt“, berichtet er. „Ich habe mit meinem Lebensstil ein komplettes Reset gemacht, da insbesondere meine falsche Ernährung mit zu viel gesättigten Fettsäuren und zu wenig Ballaststoffen Ursache für meine Erkrankung war. Meine Ernährung ist auf mediterrane Kost und wenig Alkohol umgestellt, ich meide unnötigen Stress und bewege mich in der Natur, wo irgend möglich. Zudem engagiere ich mich als Patientenvertreter und nehme an Forschungsprojekten und Studien teil, denn ich will andere Betroffene ermutigen, selbst aktiv zu werden und sich nicht nach dem ersten Arztbesuch mit einer Verdachtsdiagnose zufriedenzugeben. Denn: Gesundheit ist kein Zufall.“6)
Dabei und bei allen seinen anderen Engagements ist Meyer das Wichtigste, anderen Betroffenen mitzugeben, dass man selbst auch in seinem Leid sehr viel tun kann. Nicht nur, wie in seinem Fall, durch Veränderungen des Lebensstils. „Man sollte sich auch selbst um die eigene Gesundheit kümmern, das habe ich gelernt durch das, was ich durchgemacht habe. Und das möchte ich unbedingt weitergeben, auch als Patientenvertreter in Forschungsprojekten mit Schwerpunkt Onkologie.“7)8)
Seltenen Erkrankungen mit Eigenverantwortung und Beharrlichkeit begegnen
Selbst aktiv werden, rät Hans-Günter Meyer allen, die wie er von einer Seltenen Krankheit betroffen sind. Nicht nur, was die eigene Gesundheit angeht, sondern zum Beispiel auch als Patientenvertreter.
Meyer ist zudem Mitglied folgender Vereine und Gesellschaften:
Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V., Deutsche Herzstiftung e.V., Deutsches Netzwerk Gesundheitskompetenz e.V., Lebenshilfe für Menschen mit Behinderung e.V., Deutsche Hochdruckliga e.V., Digitale Gesundheit Baden-Württemberg e.V., Gesundheitsplattform Rhein-Neckar e.V., Zentrum für Telemedizin Bad Kissingen e.V., Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V., Forum Gesundheitsstandort Baden-Württemberg, Förderverein für krebskranke Kinder Tübingen e.V.
Außerdem ist er nach eigener Aussage Gastdozent der Medizinischen Fakultät an der Universität Freiburg im Klinischen Wahlfach „Digitale Kompetenzen in der Medizin“ und Teilnehmer an den Forschungsprojekten „Möglichkeiten der Beteiligung von Patientenvertreter*innen in gesundheitspolitischen Institutionen auf Bundesebene“ (MHB Fontane, Zentrum für Versorgungsforschung), „Erfahrungen von Patient*innen mit einer Seltenen Erkrankung“ (Universität Zürich) und am BMBF Zukunftscluster nanodiag BW (Hahn-Schickard-Gesellschaft für angewandte Forschung e.V).
Als Patientenvertreter und Delegierter der Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. war er an der Entwicklung der Nationalen Versorgungsleitlinie Hypertonie beteiligt: https://www.leitlinien.de/themen/hypertonie
Man muss immer etwas haben, worauf man sich freuen kann.
– E. Mörike und Lebensdevise H.-G. Meyers seit seiner schweren Erkrankung