Risikogruppen für Mangelernährung sind vor allem onkologische, geriatrische oder chirurgische Patientinnen und Patienten – also jene, bei denen anzunehmen ist, dass sie während ihres Krankenhausaufenthaltes weiter an Gewicht verlieren werden. Die Folgen der Mangelernährung sind ein erhöhtes Infektionsrisiko und Komplikationen, die eine weitere Diagnostik und Therapie notwendig machen und den Krankenhausaufenthalt verlängern können. Das schränkt nicht nur die Lebensqualität ein, Mangelernährung erhöht sogar das Sterberisiko um 25 Prozent. Doch dem kann Abhilfe geschaffen werden: Studien belegen, dass eine leitliniengerechte und von einem speziellen Team überwachte Ernährungstherapie das Komplikationsrisiko verringert und die Dauer eines Krankenhausaufenthaltes reduziert.
Gezieltes Screening sichert optimale Ernährung während Klinikaufenthalt
Das Universitätsklinikum Tübingen rückt die überraschend weit verbreitete Problematik in den Fokus und gründete bereits 2017 eine Stabsstelle Ernährungsmanagement. Seitdem werden stationäre Patientinnen und Patienten direkt bei ihrer Aufnahme mit Hilfe eines Screening-Bogens befragt: Auf diese Weise wird ihr Ernährungszustand erhoben. „Die Fragen sind einfach“, erklärt Danielle Schweikert, Bereichsleiterin der Stabsstelle Ernährungsmanagement am Universitätsklinikum Tübingen. „Gefragt wird zum Beispiel, ob der Betroffene in den vergangenen Wochen an Gewicht verloren hat, ob er weniger Nahrung zu sich genommen hat als gewöhnlich – und natürlich schauen wir uns das Krankheitsbild und das Alter genau an. Wird in diesem Screening ein bestimmter Punktwert erreicht, erhält das Nutrition Support Team (NST) automatisch eine Nachricht und wird hinzugezogen.“
Im zweiten Schritt wird vom NST im Bedarfsfall ein individuell abgestimmtes Ernährungsregime erstellt. „Steht dem Patienten oder der Patientin eine schwere OP bevor, zum Beispiel eine Tumoroperation, und weist die Person bereits eine Mangelernährung auf, können wir direkte Ernährungsmaßnahmen empfehlen“, erläutert die Expertin. „Denn es ist dann sehr wahrscheinlich, dass der Patient bzw. die Patientin eine Zeit lang auf der Intensivstation verbleiben muss. In dem Fall kann man einer Verschlechterung des Ernährungszustandes gezielt entgegenwirken, sei es über Infusionen oder eine künstliche Ernährung.“ Darüber hinaus gibt das Nutrition Support Team auch dem Sozialdienst der Klinik Empfehlungen für die ernährungsmedizinische Weiterversorgung nach dem Krankenhausaufenthalt, so dass eine optimale Ernährung sichergestellt ist.
Projekt soll Kliniken für das Thema Mangelernährung sensibilisieren
Bisher spielt die Prävention der Mangelernährung an deutschen Kliniken eine eher untergeordnete Rolle, mit den oben genannten Folgen. „Um dem entgegenzuwirken, haben der Leitende Ärztliche Direktor des Universitätsklinikums Tübingen, Professor Dr. Michael Bamberg, und ich das Thema Mangelernährung bereits 2018 im baden-württembergischen Landtag vorgestellt“, erzählt PD Dr. med. Michael Adolph, Ärztlicher Leiter der Stabsstelle Ernährungsmanagement in Tübingen. „Auf dieser Grundlage hat das Ministerium für Soziales, Gesundheit und Integration eine Arbeitsgruppe ins Leben gerufen und das Projekt ‚Prävention und Therapie von Mangelernährung‘ initiiert.“ Seit Januar 2021 verschickt man Fragebögen an alle Kliniken im Land, mit dem der ernährungstherapeutische Status in den Krankenhäusern erhoben wird. Ziel ist, das „Tübinger Modell“ des Ernährungsmanagements auch auf andere Kliniken zu übertragen, um die Versorgung der Patientinnen und Patienten flächendeckend zu verbessern. Dabei konnte das Projekt schon bundesweite Strahlkraft entwickeln. Erst im Juli 2022 hat der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) „Diagnostik, Therapie und Prävention von Mangelernährung“ als einen von vier weiteren Leistungsbereichen bestimmt, zu denen das Instrument der Qualitätsverträge erprobt werden soll.
Praxis zeigt: Patientinnen und Patienten befürworten Ernährungsmanagement
Eine der Kliniken, die begonnen haben, das „Tübinger Modell“ des Ernährungsmanagements zu übernehmen, ist das Diakonie-Klinikum in Stuttgart. „Ein Stück Arbeit: Zunächst galt es, die Kolleginnen und Kollegen für das Thema ‚Mangelernährung‘ zu sensibilisieren. Aber jetzt sind wir dabei, das Team aufzubauen und das ‚Tübinger Modell‘ auf verschiedenen, vor allem onkologischen Stationen, umzusetzen“, sagt Christina Wüst vom Diakonie-Klinikum Stuttgart. Als Diätassistentin, Ernährungstherapeutin und Projekt-Kernteammitglied hat sie im Tübinger Nutrition Support Team hospitiert, um das Modell in Stuttgart anschließend in die Praxis umzusetzen. „Wir schauen bei unseren Krebspatientinnen und -patienten individuell wodurch die Mangelernährung bzw. ein Gewichtsverlust verursacht ist“, sagt Dr. Patrizia Marini, Projektleiterin für das Mangelernährungsprojekt am Diakonie-Klinikum Stuttgart. „Liegt es an der Appetitlosigkeit, am Krebs selber oder ist tatsächlich ein tumorbedingtes Hindernis im Weg, das die Nahrungspassage schwierig macht. Das sehen wir zum Beispiel häufig bei Patientinnen und Patienten mit Speiseröhren- oder Magenkrebs. Dann erstellen wir individuell Speisepläne und achten darauf, was der Patient, die Patientin gern isst, um die Nahrungsaufnahme so angenehm wie möglich zu gestalten und ein Stück Lebensqualität und Genuss zurückzugeben.“
Bei den Patientinnen und Patienten komme das Ernährungsmanagement sehr gut an, berichten Dr. Patrizia Marini und Christiane Wüst. „Wir können auch mit Kleinigkeiten eine Riesenfreude machen. Allein wenn das Lieblingsessen, das sie von zu Hause kennen, einfach mal auf dem Mittagstisch steht. Das schmeckt den Patientinnen und Patienten gut, steigert ihr Wohlbefinden und wirkt so auch einer Mangelernährung entgegen.“