Hebammen-Notstand
„Wenn ich Zeit für eine Frau habe, braucht sie deutlich weniger Schmerzmittel“
Zu wenig Zeit für Mutter und Kind, zu viele andere Aufgaben, zu wenig Anerkennung: In Deutschland fehlt es an Hebammen. Die Pandemie hat den Mangel noch verstärkt. Welche Änderungen der Hebammenverband Baden-Württemberg fordert, erklärt dessen 2. Vorsitzende Christel Scheichenbauer.
Wie ist es zu dem Notstand gekommen, dass so viele Hebammen fehlen?
Christel Scheichenbauer: Wir haben lange Zeit zu wenige ausgebildet. Der Notstand bestand schon lange vor der Pandemie. Corona hat ihn nur verschärft. Immer mehr jüngere Kolleginnen mit kleinen Kindern steigen schnell wieder aus dem Beruf aus. Die Arbeitsbedingungen und das Drei-Schicht-Modell in den Kliniken sind nicht attraktiv für sie. Familienfreundlichere Arbeitszeitmodelle wären sinnvoll. Ein weiteres Problem ist die Arbeitsbelastung: Drei oder vier Frauen gleichzeitig zu betreuen, ist völlig normal. Doch damit fühlt man sich als Hebamme nicht wohl, weil man das, was man eigentlich tun möchte, nicht tun kann. Wir fordern eine Eins-zu-Eins-Betreuung. Hinzu kommt die Arbeitsverdichtung: Wegen der neuen Dokumentationsmöglichkeiten bleibt oft nicht mehr die Zeit, um die Frauen am Kreißbett adäquat zu betreuen. Viele Hebammen müssen sich zudem noch um ambulante Fälle kümmern. Am Wochenende kommen zum Beispiel Schwangere mit Bauchschmerzen oder Durchfall in die Klinik, weil die Frauenarztpraxen zu sind. Auch sie kommen in den Kreißsaal und werden untersucht. Unsere Forderung ist, Stellen für die ambulante Betreuung zu schaffen, damit den Hebammen in der Geburthilfe ausreichend Zeit bleibt.
Ihr Verband fordert eine hebammengeleitete Geburtshilfe. Können Sie erklären, was damit gemeint ist?
Christel Scheichenbauer: Hebammengeleitete Geburtshilfe bedeutet, dass die Hebamme alleinverantwortlich ist für die Geburt. Wir dürfen physiologische Geburten alleine betreuen, eine Ärztin oder einen Arzt müssen wir nur dann hinzuziehen, wenn sich Komplikationen andeuten. In der hebammengeleiteten Geburtshilfe liegt der Fokus darauf, die Frau so gut wie möglich in ihren eigenen Ressourcen zu stärken, damit es möglichst wenig Interventionen braucht. Wenn ich Zeit für eine Frau habe, braucht sie deutlich weniger Schmerzmittel. Ich sehe auch viel früher, ob sich da irgendetwas anbahnt, was vielleicht einer Korrektur bedarf. Allein dadurch, dass ich sie noch einmal aus dem Bett rauslocke oder ihr eine Übung zeige, wie sie mit ihrem Becken umgehen kann, kann ich etwas beheben, bevor es eintritt. Ich muss der Frau das Gefühl geben, ich habe jetzt Zeit, wir müssen jetzt nicht „zackig“ weitermachen, weil ich um 18:30 Uhr in den OP muss.
Hebammen fühlen sich im Vergleich mit dem Pflegepersonal benachteiligt und vergessen. Warum?
Christel Scheichenbauer: Das beste Beispiel ist der Corona-Bonus. Die Kolleginnen im Kreißsaal waren genauso belastet wie das Personal auf den anderen Stationen. Jede Frau, die positiv auf Corona getestet war, musste separiert werden und hat einen eigenen Bereich im Kreißsaal bekommen. Hätte eine Hebamme nur diese Frau betreuen müssen, wäre es nicht so schlimm gewesen. Aber sie hatte sich noch um andere Frauen zu kümmern. Das heißt, sie ging aus dem Raum, zog die Corona-Montur aus und sich komplett um, bevor sie zur nächsten Frau ging. Nach einer halben Stunde musste sie zurück in den Kreißsaal zur positiv getesteten Frau. Das bedeutete: wieder umziehen. Das war ein deutlicher Mehraufwand, der in keiner Weise berücksichtigt wurde. Ganz schwierig war, dass wir Hebammen sehr lange nicht zu den systemrelevanten Berufsgruppen gehörten. Das bedeutete, dass Kolleginnen mit kleinen Kindern keine Möglichkeit hatten, ihre Kinder während des Lockdowns betreuen zu lassen, als die Kitas geschlossen waren. Wir sind auch vergessen worden bei der Schutzkleidung, die wir lange Zeit selbst bezahlen mussten. Bei jeder Corona-Verordnung hier im Land Baden-Württemberg wurden Ergotherapeuten, Logopäden und andere explizit benannt – die Hebammen nicht.
Was sollte in Zukunft passieren, damit das Berufsleben leichter wird?
Christel Scheichenbauer: Fachfremde Arbeiten sollten den Hebammen abgenommen werden: Es kann nicht sein, dass eine Hebamme auch noch den Kreißsaal putzt. Es kann auch nicht sein, dass sie Blut abnimmt und das dann selbst ins Labor bringt. Hebammen brauchen einfach mehr Zeit für ihre eigentliche Arbeit. Was außerdem zu diskutieren ist: die eigene Kinderbetreuung. Welche Möglichkeiten gibt es? Können die Dienstzeiten individueller gestaltet werden? Es ist nicht leicht, das alles zu verwirklichen, aber es ist möglich. Und man muss in diese Richtung denken.