Drei Fragen an...
Prof. Dr. Holger Cramer, Wissenschaftlicher Leiter des Robert Bosch Centrums für Integrative Medizin und Gesundheit am Bosch Health Campus und Professor an der Universität Tübingen
Die integrative Medizin kombiniert konventionelle Medizin mit komplementärmedizinischen Methoden, wie zum Beispiel Akupunktur oder Yoga – mit dem Ziel, personalisierte Therapiekonzepte zu erarbeiten. Was sich dahinter genau verbirgt und woran in diesem Bereich geforscht wird, erklärt Prof. Dr. Holger Cramer, Wissenschaftlicher Leiter des Robert Bosch Centrums für Integrative Medizin und Gesundheit am Bosch Health Campus und Professor für die Erforschung komplementärmedizinischer Verfahren an der Universität Tübingen, in unserem Interview.
Herr Prof. Cramer, was genau versteht man unter integrativer Medizin? Und wie kann integrative Medizin zur medizinischen Versorgung von morgen beitragen?
Prof. Cramer: Wie von der Weltgesundheitsorganisation gefordert, bringt die integrative Medizin die konventionelle Medizin und die Komplementärmedizin zusammen. Unter Komplementärmedizin versteht man Methoden, die auf einem anderen philosophischen Hintergrund aufbauen als die moderne Biomedizin, zum Beispiel Akupunktur oder Yoga, aber auch die europäische Naturheilkunde. Integrative Medizin zielt auf eine gut koordinierte Versorgung zwischen verschiede-nen Behandlern und Einrichtungen ab, indem konventionelle und komplementäre Ansätze in einem personalisierten Therapiekonzept kombiniert werden. Dabei wird die Bedeutung der therapeutischen Beziehung bekräftigt und der ganze Mensch in den Mittelpunkt gestellt.
Integrative Medizin stützt sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse und nutzt alle geeigneten Therapie- und Lebensstilansätze sowie Berufsgruppen, um optimale Gesundheit und Heilung zu erreichen. Die integrative Medizin kann dadurch gerade bei chronischen Erkrankungen, bei denen der Lebensstil und die Psyche der Erkrankten eine wichtige Rolle spielen, wie etwa Herz-Kreislauf-Erkrankungen oder chronische Schmerzen, deutlichen Mehrwert generieren. Sie ermöglicht auch gezielte Ansätze zur Reduktion von Nebenwirkungen dringend notwendiger, aber sehr invasiver Therapien, etwa in der Krebsbehandlung. Letztlich soll für jeden Menschen das ideale Therapie- oder Präventionskonzept entwickelt und dabei alle Ressourcen genutzt werden, die zur Verfügung stehen.
Wo liegen die Forschungsschwerpunkte des Robert Bosch Centrums für Integrative Medizin und Gesundheit?
Prof. Cramer: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland nutzt Komplementärmedizin – daraus ergibt sich ein ethischer Imperativ, wissenschaftlich zu prüfen, ob diese Methoden tatsächlich die erwartete Wirkung zeigen, ob sie sicher angewandt werden können und ob sie ökonomisch sind. Der Schwerpunkt unserer Forschung liegt dabei auf der Wirksamkeit, Sicherheit und Wirtschaftlichkeit nicht-medikamentöser Verfahren der Komplementärmedizin. So untersuchen wir, ob Yoga eine wirksame Methode zur Linderung von Fatigue, einer chronischen Erschöpfung nach überstandener Coronainfektion darstellt, ob Akupressur die Lebensqualität von Krebserkrankten fördert oder mediterrane Diät Depressionen lindern kann. Dabei wägen wir Wirkungen gegen Risiken und Kosten ab.
Letztlich wollen wir herausfinden, was jeder und jede Einzelne tun kann, um gesund zu werden oder zu bleiben. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf Yoga, Achtsamkeit und Meditation sowie auf der mentalen Gesundheit und psychischer Symptomatik bei verschiedenen Erkrankungen. Wir untersuchen auch, welche Therapien genau Patientinnen und Patienten wofür nachfragen und wie nachgewiesen wirksame Therapien in das Gesundheitssystem integriert werden können.
Ihre Professur wurde im August 2022 zur Erforschung komplementärmedizinischer Verfahren an der Universität Tübingen und dem Bosch Health Campus eingerichtet. Dabei handelt es sich um die erste rein wissenschaftliche Professur in diesem Bereich an einer deutschen staatlichen Universität. Wie kam es dazu? Und was ist das Besondere an dieser Professur?
Prof. Cramer: Die Einrichtung der Professur geht auf eine Initiative der baden-württembergischen Landesregierung zurück, die in ihrem Koalitionsvertrag festgelegt hat: „Wir wollen im Land einen Lehrstuhl für Komplementärmedizin einrichten.“ Ziel hierbei war, nachgewiesen wirksame komplementärmedizinische Verfahren langfristig in die Normalversorgung und in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung aufnehmen zu können. Dass dazu Forschung auf höchstem Niveau der evidenzbasierten Medizin nötig ist, hat die Landesregierung erkannt und entsprechend gehandelt. Das Team der Professur hat folgerichtig auch keinen Versorgungsauftrag, sondern konzentriert sich vollkommen auf Forschung und Lehre. Die Professur wird in den ersten fünf Jahren von der Robert Bosch Stiftung finanziert, ist aber von Anfang an auf Dauer angelegt und das Land hat ihre langfristige Finanzierung zugesichert. Das ist in dieser Form bisher einzigartig und wird als Leuchtturmprojekt hoffentlich Signalwirkung für andere Bundesländer haben.